Medizin für die Vergessenen
Als die Ärzte Gerhard Gradl und Friederike Wiegand an diesem Morgen die Sprechstunde eröffnen, warten bereits mehr als 50 Patienten. Es sind fast nur Frauen und Kinder, die die Ankunft der Mediziner aus Deutschland sehnlichst erwartet haben. Die Männer sind im Krieg. Von Syr ed Danniye im Norden des Libanon, sind es nur gute 30 Kilometer Luftlinie bis zur syrischen Grenze und bis zu den Kämpfen, vor denen diese Menschen geflohen sind. Im Auftrag der deutschen Hilfsorganisation „humedica“ versuchen die Ärzte hier eine medizinische Versorgung für die Menschen aufrecht zu erhalten, die als Flüchtlinge durch alle Raster gefallen und buchstäblich mit Nichts im Libanon gestrandet sind.
Es ist bissig kalt in der leerstehenden Garage, die der Bürgermeister dem Hilfsteam als Behandlungsraum zur Verfügung gestellt hat. Ein Elektro-Ofen versucht gegen die sechs Grad anzukommen, die in der Nacht aus den Bergen in das Städtchen herunter geweht sind. Ein weißer Plastiktisch mit drei Stühlen an jeder Seite dient als Behandlungstisch. Auf einer Seite sitzt Kinderärztin Wiegand mit ihrem Übersetzer, auf der anderen Allgemeinarzt Gradl. Was an Medikamenten gebraucht wird, hat das Team in zwei einfachen Reisekoffern dabei, die Auswahl ist rudimentär, aber für die meisten Beschwerden ausreichend. Krankenschwester Ann-Christin Stitz arbeitet den Ärzten zu, verwaltet die Apotheke und misst Blutdruck oder Blutzucker.
Seit September ist die Hilfsorganisation „humedica“ aus dem bayerischen Kaufbeuren im Libanon mit medizinischen Teams tätig, um die schlimmste Not der Flüchtlinge zu lindern. Finanziert vom Auswärtigen Amt und in Partnerschaft mit der libanesischen Organisation „Generation with a Message“ (GWAM) schließen die freiwilligen Ärzte eine Lücke, die das Flüchtlingshilfswerk der Vereinten Nationen (UNHCR) hinterlässt. Rund 510 000 syrische Flüchtlinge zählt die UNHCR, davon 140 000 im Libanon. Doch die Vereinten Nationen erfassen nur registrierte Syrer und nur diese haben Anspruch auf Hilfe, medizinische Versorgung oder beispielsweise kostenlosen Schulbesuch für die Kinder. Wer sich nicht registrieren lässt, geht leer aus. „Die syrische Gemeinschaft im Libanon ist groß, und viele kommen privat unter oder lassen sich aus anderen Gründen nicht registrieren“ sagt UNHCR-Sprecherin Dana Sleiman in Beirut. Wer Kämpfer in der Familie hat oder sonst der Staatengemeinschaft nicht vertraut, scheut oftmals auch den Gang zu den Registrierungsstellen. Zwei humedica-Teams, eines im Norden in der Region Syr Dannieh und Akkar und eines im Süden in der Beeka-Ebene kümmern sich um die vergessenen Kriegsflüchtlinge.
Wer im Norden untergekommen ist, hat hier wenigstens zumeist ein festes Dach über dem Kopf. In Turnhallen, leer stehenden Häusern, in Garagen und Schulhäusern drängen sich die Schutzsuchenden. Wenn die Doktoren aus Deutschland kommen, trommelt Tage zuvor ein einheimischer Koordinator die Menschen zusammen. Ungeduldig wird dann schon am frühen Morgen die Ankunft der Ärzte erwartet.
Die Patienten, die das deutsche Team hier zu sehen bekommt, sind äußerlich nicht außergewöhnlich krank oder verletzt. Nur etwa zehn Prozent haben echte Kriegsverletzungen wie Schusswunden. Sonst sind es Kinder mit Rotznasen oder Durchfällen, kleinere Hautkrankheiten durch die schlechter werdende Hygiene, Harnwegsinfekte. Und immer wieder psychosomatische Beschwerden wie Rücken- oder Kopfschmerzen. Die Wunden, die der bewaffnete Konflikt in der Heimat gerissen hat, sind bei diesen Menschen nicht körperlich. „Die Flüchtlinge sind durch ihre Kriegserlebnisse gezeichnet“, sagt Gerhard Gradl. „Wir haben völlig traumatisierte Kinder, die ihre Nachbarn sterben sahen oder deren Vater nicht mehr wiederkommt. Wir haben Eltern, die an der Zukunft verzweifeln und sich am liebsten das Leben nehmen möchten“, so der Mediziner. Eine ungewöhnliche Situation für die Ärzte, die gekommen waren um Kriegswunden zu behandeln und nun mit kranken Seelen konfrontiert sind. Doch für die Flüchtlinge ist es oftmals schon heilsam, dass ihnen endlich einmal jemand zuhört. Und egal ob sie Antibiotika austeilen oder nur ernsthaft den Sorgen ihrer Patienten gelauscht haben – den Ärzten schlägt große Dankbarkeit entgegen.
Um hier im Norden des Libanon etwas zu erreichen, braucht es Fürsprecher. Im Fall von humedica ist dies der libanesische UN-Diplomat Mounzer Fatfat, dessen Familie hier zuhause ist. Durch die Vermittlung von Fatfat trifft das Team auf große Hilfsbereitschaft. Ob es um Räume für die Behandlung geht, Übernachtungsmöglichkeiten für die Ärzte oder um Helfer, die vor Ort den Patientenansturm kanalisieren – die Vermittlung des umtriebigen Diplomaten öffnet Türen. Und bringt Verpflichtungen. Kaum ein Behandlungstag, der nicht zumindest mit einem Tee mit den lokalen Honoratioren beginnt oder mit einer Einladung zum Abendessen endet. Und wo Fatfat das Team angekündigt hat, muss es erscheinen, egal ob es die eigenen Pläne so vorgesehen haben. Die Bevölkerung im Libanon sieht die Flüchtlinge mit gemischten Gefühlen. Die Menschen helfen, doch sie haben auch Angst vor einem Übergreifen des Konflikts. Zu frisch sind die Erinnerungen an den Bürgerkrieg im eigenen Land.
Das Süd-Team um die Ärzte Heiner Laube und Arnold Breuer sowie die Medizinstudentin Kim Kumar muss sich derweil mit einer ganz anderen Lage auseinandersetzen. Hier im Bekaa-Tal, eingebettet zwischen den Gebirgszügen Libanon und Antilibanon, haben sich in kürzester Zeit unzählige Flüchtlingslager gebildet. Die fruchtbare Hochebene ist so etwas wie die Kornkammer des Landes, und Wanderarbeiter aus Syrien finden hier seit jeher ein Auskommen. Doch in die teilweise gut ausgestatteten Lager der Beduinen strömen jetzt Flüchtlinge, und die Zahl der mit Plastikplanen überzogenen Barracken wächst von Tag zu Tag. Der kleinste Regen verwandelt den braunen Lehmboden zwischen den Hütten in Schlamm, und die hauchdünnen Wände haben dem herannahenden Winter haben kaum etwas entgegen zu setzen. Bis zu fünf Familien drängen sich in einem einzigen Raum.
Rund 20 Lager fährt das humedica-Team in regelmäßigen Abständen an. Trotz schwieriger hygienischer Bedingungen ist der Gesundheitszustand kaum anders als im Norden. Internist Heiner Laube ist immer wieder überrascht, wie gut die Syrer in ihrer Heimat medizinisch versorgt waren. Patienten bringen ihre Medikamente mit in die Sprechstunde. „Aus ärztlicher Sicht kann man sagen, dass Assad-Regime hat für die Menschen eine hervorragende medizinische Versorgung geschaffen“, sagt er. Ebenso wie die Schulbildung ist in Syrien das Gesundheitssystem kostenlos. Die Medikamente, aber auch Eingriffe wie mit Laserchirurgie korrigierte Augen, die die Ärzte hier im Lager zu sehen bekommen, entsprechen dem westlichen Behandlungsstandard. Doch jetzt geraten Menschen mit chronischen Beschwerden in Schwierigkeiten. Die deutschen Ärzte treffen auf Diabetiker, die seit Wochen ohne Insulin auskommen müssen oder auf Patienten, bei denen der Blutdruck besorgniserregende Werte angenommen hat. Für eine Übergangzeit kann auch hier geholfen werden, doch für eine Langzeittherapie reichen die Mittel nicht aus.
Bis zu 200 Patienten versorgen die humedica-Teams an einem Tag. Die meisten Helfer bleiben zwei bis vier Wochen im Land und leisten die Hilfe unentgeltlich in ihrer Freizeit. „Auch wenn es angesichts der Flüchtlingszahlen nur ein Tropfen auf den heißen Stein sein mag, weiß ich, dass den 650 Patienten, die ich behandelt habe, geholfen wurde“, ist Gerhard Gradl zufrieden. Damit der herannahende Winter die Bemühungen nicht wieder zunichte macht, hat humedica begonnen, in Abstimmung mit der UNHCR Hilfspakete zu verteilen. Die meisten Flüchtlinge besitzen nur das, was sie bei ihrem Aufbruch am Leib trugen, und das war in vielen Fällen dünne Sommerkleidung. Die Kinder laufen barfuß oder in Sandalen herum. Mit Decken und Winterkleidung, Nahrungspaketen und Hygieneartikeln sollen sich die Menschen auf die kalte Jahreszeit vorbereiten können. Ob humedica die medizinische Hilfe auch im kommenden Jahr fortführt, wird davon abhängen, wie sich die Zahl der nicht registrierten Flüchtlinge entwickelt, sagt humedica-Koordinator Klaus Haas in Kaufbeuren. „Wenn die Menschen uns brauchen, und wir damit eine Nische neben der Arbeit der UNHCR ausfüllen können, werden wir die Hilfe sicherlich fortführen“.
(Erschienen: Katholische Sonntagszeitung 12./13.Januar 2013)